Zensierte Märchen

Jacob Grimms Wunsch war es, eine möglichst authentische Sammlung der Volksmärchen zu veröffentlichen. Damit stieß er auf heftige Kritik. Die Erzählungen seien nicht im Mindesten für Kinder geeignet: zu viele sexuelle Anspielungen, zu brutal, zu aufrührerisch.

Von nun an überarbeitete Wilhelm Grimm die Märchen und schuf so die heute bekannten Klassiker. Aber insgesamt 28 Geschichten nahm er aus der letzten Ausgabe von 1857 heraus. An ihnen kann man erkennen, wie die Märchen vor zweihundert Jahren erzählt wurden.

Der gute Lappen

Zwei Nähtersmädchen hatten nichts geerbt als einen guten alten Lappen, der machte alles zu Gold, was man hineinwickelte, damit hatten sie genug und nähten dabei noch zu kleinem Verdienst. Die eine Schwester war sehr klug, die andere sehr dumm.

Eines Tags war die älteste in die Kirche gegangen, da kam ein Jude die Straße her und rief: "Schöne, neue Lappen zu verkaufen oder zu vertauschen gegen alte, nichts zu handlen?" Wie die Dumme das hörte, lief sie hin und vertauschte ihren guten alten Lappen für einen neuen; das wollte der Jud gerad, denn er kannte die Tugend des alten gar wohl.

Als die älteste nun heimkam, sprach sie: "Mit dem Nähverdienst geht's schlecht, ich muß uns ein bißchen Geld schaffen, wo ist unser Lappen?" "Desto besser", sprach die Dumme, "ich hab auch, während du aus warst, einen neuen und frischen dafür eingehandelt für den alten. " (Nachher wird der Jude ein Hund, die zwei Mädchen Hühner, die Hühner aber endlich Menschen und prügeln den Hund zu Tode.)

Prinzessin Mäusehaut

Ein König hatte drei Töchter; da wollte er wissen, welche ihn am liebsten hätte, ließ sie vor sich kommen und fragte sie. Die älteste sprach, sie habe ihn lieber als das ganze Königreich; die zweite, als alle Edelsteine und Perlen auf der Welt; die dritte aber sagte, sie habe ihn lieber als das Salz. Der König ward aufgebracht, daß sie ihre Liebe zu ihm mit einer so geringen Sache vergleiche übergab sie einem Diener und befahl, er solle sie in den Wald führen und töten.

Wie sie in den Wald gekommen waren, bat die Prinzessin den Diener um ihr Leben; dieser war ihr treu und würde sie doch nicht getötet haben, er sagte auch, er wolle mit ihr gehen und ganz nach ihren Befehlen tun. Die Prinzessin verlangte aber nichts als ein Kleid von Mäusehaut, und als er ihr das geholt, wickelte sie sich hinein und ging fort.

Sie ging geradezu an den Hof eines benachbarten Königs, gab sich für einen Mann aus und bat den König, daß er sie in seine Dienste nehme. Der König sagte es zu, und sie solle bei ihm die Aufwartung haben. Abends mußte sie ihm die Stiefel ausziehen, die warf er ihr allemal an den Kopf. Einmal fragte er, woher sie sei. "Aus dem Lande, wo man den Leuten die Stiefel nicht um den Kopf wirft."

Der König ward da aufmerksam, endlich brachten ihm die andern Diener einen Ring; Mäusehaut habe ihn verloren, der sei zu kostbar, den müsse er gestohlen haben. Der König ließ Mäusehaut vor sich kommen und fragte, woher der Ring sei. Da konnte sich Mäusehaut nicht länger verbergen, sie wickelte sich von der Mäusehaut los, ihre goldgelben Haare quollen hervor, und sie trat heraus, so schön, aber auch so schön, daß der König gleich die Krone von seinem Kopf abnahm und ihr aufsetzte und sie für seine Gemahlin erklärte.

Die Hand mit dem Messer

Es war ein kleines Mädchen, das hatte drei Brüder, die galten bei der Mutter alles, und es wurde überall zurückgesetzt, hart angefahren und mußte tagtäglich morgens früh ausgehen, Torf zu graben auf dürrem Heidegrund, den sie zum Kochen und Brennen brauchten. Noch dazu bekam es ein altes und stumpfes Gerät, womit es die sauere Arbeit verrichten sollte.

Aber das kleine Mädchen hatte einen Liebhaber, der war ein Elfe und wohnte nahe an ihrer Mutter Haus in einem Hügel, und sooft es nun an dem Hügel vorbeikam, so streckte er seine Hand aus dem Fels und hielt darin ein sehr scharfes Messer, das von sonderlicher Kraft war und alles durchschnitt. Mit diesem Messer schnitt sie den Torf bald heraus, ging vergnügt mit der nötigen Ladung heim, und wenn sie am Felsen vorbeikam, klopfte sie zweimal dran, so reichte die Hand heraus und nahm das Messer in Empfang.

Als aber die Mutter merkte, wie geschwind und leicht sie immer den Torf heimbrachte, erzählte sie den Brüdern, es müßte ihr gewiß jemand anders dabei helfen, sonst wäre es nicht möglich. Da schlichen ihr die Brüder nach und sahen, wie sie das Zaubermesser bekam, holten sie ein und drangen es ihr mit Gewalt ab.

Darauf kehrten sie zurück, schlugen an den Felsen, als sie gewohnt war zu tun, und wie der gute Elf die Hand herausstreckte, schnitten sie sie ihm ab mit seinem selbeigenen Messer. Der blutende Arm zog sich zurück, und weil der Elf glaubte, seine Geliebte hätte es aus Verrat getan, so wurde er seitdem nimmermehr gesehen.

Das Mordschloß

Es war einmal ein Schuhmacher, welcher drei Töchter hatte; auf eine Zeit, als der Schuhmacher aus war, kam da ein Herr, welcher sehr gut gekleidet war und welcher eine prächtige Equipage hatte, so daß man ihn für sehr reich hielt, und verliebte sich in eine der schönen Töchter, welche dachte, ihr Glück gemacht zu haben mit so einem reichen Herrn, und machte also keine Schwierigkeit, mit ihm zu reiten.

Da es Abend ward, als sie unterwegs waren, fragte er sie: "Der Mond scheint so hell meine Pferdchen laufen so schnell süß Lieb, reut dich's auch nicht?" "Nein, warum sollt mich's reuen? Ich bin immer bei Euch wohl bewahrt", da sie doch innerlich eine Angst hatte. Als sie in einem großen Wald waren, fragte sie, ob sie bald da wären. "Ja", sagte er, "siehst du das Licht da in der Ferne, das ist mein Schloß"; endlich kamen sie da an, und alles war gar schön.

Am andern Tage sagte er zu ihr, er müßt auf einige Tage sie verlassen, weil er wichtige Affären hätte, die notwendig wären, aber er wolle ihr alle Schlüssel lassen, damit sie das ganze Kastell sehen könnte, von was für Reichtum sie all Meister wär.

Als er fort war, ging sie durch das ganze Haus und fand alles so schön, daß sie völlig damit zufrieden war, bis sie endlich an einen Keller kam, wo eine alte Frau saß und Därme schrappte. "Ei Mütterchen, was macht Sie da?" "Ich schrapp Därme, mein Kind, morgen schrapp ich Eure auch!" Wovon sie so erschrak, daß sie den Schlüssel, welcher in ihrer Hand war, in ein Becken mit Blut fallen ließ, welches nicht gut wieder abzuwaschen war: "Nun ist Euer Tod sicher", sagte das alte Weib, "weil mein Herr sehen kann, daß Ihr in der Kammer gewesen seid, wohin außer ihm und mir kein Mensch kommen darf." (Man muß aber wissen, daß die zwei vorigen Schwestern auf dieselbe Weise waren umgekommen.)

Da in dem Augenblick ein Wagen mit Heu von dem Schloß wegfuhr, so sagte die alte Frau, es wäre das einzige Mittel, um das Leben zu behalten, sich unter das Heu zu verstecken und dann da mit wegzufahren; welches sie auch tät. Da inzwischen der Herr nach Haus kam, fragte er, wo die Mamsell wäre. "Oh", sagte die alte Frau, "da ich heut keine Arbeit mehr hatte und sie morgen doch dran mußte, hab ich sie schon geschlachtet, und hier ist eine Locke von ihrem Haar, und das Herz, wie auch was warm Blut, das übrige haben die Hunde alle gefressen, und ich schrapp die Därme." Der Herr war also ruhig, daß sie tot war.

Sie kommt inzwischen mit dem Heuwagen zu einem nahbei gelegenen Schloß, wo das Heu hin verkauft war und sie kommt mit aus dem Heu und erzählt die ganze Sache und wird ersucht, da einige Zeit zu bleiben. Nach Verlauf von einiger Zeit nötigt der Herr von diesem Schloß alle in der Nähe wohnenden Edelleute zu einem großen Fest, und das Gesicht und Kleidung von der fremden Mamsell wird so verändert, daß sie nicht erkannt werden konnte, weil auch der Herr von dem Mordkastell dazu eingeladen war.

Da sie alle da waren, mußte ein jeder etwas erzählen, da die Reihe an die Mamsell kam, erzählte sie die bewußte Historie, wobei dem sogenannten Herrn Graf so ängstlich ums Herz ward, daß er mit Gewalt weg wollte, aber der gute Herr von dem adeligen Haus hatte inzwischen gesorgt, daß das Gericht unsern schönen Herrn Grafen in Gefängnis nahm, sein Kastell ausrottete und seine Güter alle der Mamsell zu eigen gab, die nach der Hand mit dem Sohn des Hauses, wo sie so gut empfangen war, sich verheiratete und lange Jahre lebte.

Wie Kinder Schlachtens miteinander gespieit haben

In einer Stadt, Franecker genannt, gelegen in Westfriesland, da ist es geschehen, daß junge Kinder, fünf- und sechsjährige, Mägdlein und Knaben, miteinander spielten. Und sie ordneten ein Büblein an, das solle der Metzger sein, ein anderes Büblein, das solle Koch sein, und ein drittes Büblein, das solle eine Sau sein. Ein Mägdlein, ordneten sie, solle Köchin sein, wieder ein anderes, das solle Unterköchin sein, und die Unterköchin solle in einem Geschirrlein das Blut von der Sau empfahen, daß man Würste könne machen.

Der Metzger geriet nun verabredetermaßen an das Büblein, das die Sau sollte sein, riß es nieder und schnitt ihm mit einem Messerlein die Gurgel auf, und die Unterköchin empfing das Blut in ihrem Geschirrlein. Ein Ratsherr, der von ungefähr vorübergeht, sieht dies Elend: er nimmt von Stund an den Metzger mit sich und führt ihn in des Obersten Haus, welcher sogleich den ganzen Rat versammeln ließ. Sie saßen all über diesen Handel und wußten nicht, wie sie ihm tun sollten, denn sie sahen wohl, daß es kindlicherweise geschehen war.

Einer unter ihnen, ein alter weiser Mann, gab den Rat, der oberste Richter solle einen schönen roten Apfel in eine Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken: nehme es den Apfel, so soll' es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es töten.Dem wird gefolgt, das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt.

Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen, als sie nun nachmittag miteinander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: "Du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein"; hat darauf ein bloß Messer genommen und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen.

Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz.

Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; deswegen dann die Frau so voller Angst ward, daB sie in Verzweifelung geriet, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhängte. Der Mann kam vom Felde, und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrübt, daß er kurz darauf gestorben ist.

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